Was heißt ,allgemeine und theoretische Soziologie‘?
Soziologie im Allgemeinen kann als Lehre von den sozialen Bedingungen und Folgen des menschlichen Handelns sowie von den Ordnungsprinzipien, Veränderungsprozessen und Entwicklungstendenzen gesellschaftlicher Formationen in ihrem Gesamtzusammenhang verstanden werden.
Die darin enthaltene Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialem Handeln und sozialen ‚Strukturen‘ (d. h. überindividuellen Ordnungsmustern des Zusammenlebens) wird von unterschiedlichen soziologischen Denkschulen in verschiedener Weise thematisiert und beantwortet.
Soziologische Theorie beschäftigt sich deshalb sowohl mit der (Weiter-) Entwicklung von Begriffen und Konzepten, die eine aktualisierte Bestimmung dieses Verhältnisses erlauben, als auch mit der Systematisierung unterschiedlicher soziologischer Denkrichtungen, um deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede analytisch fruchtbar zu machen.
Drei Leitfragen dienen vor diesem Hintergrund sowohl dem besseren Verständnis von Gesellschaft als auch der Verortung unterschiedlicher Theorieansätze innerhalb der soziologischen Debatte:
- Was bestimmt den Zusammenhalt der Gesellschaft bzw. welche Elemente des Sozialen sind für diesen Zusammenhalt wesentlich (Aspekt der ‚Synthesis‘)?
- Wodurch und wie bewegt bzw. verändert sich Gesellschaft (Aspekt der ‚Dynamis‘)?
- (Wie) ist die Einflussnahme auf Gesellschaft durch Handeln möglich (Aspekt der ‚Praxis‘)?
Dem soziologischen Professionsverständnis folgend, leistet auch die soziologische Theorie durch die Beantwortung dieser Fragen sowohl einen Beitrag zur Aufklärung sozialer Praxis als auch zur gesellschaftlichen Standortreflexion der Soziologie als Ganzer:
Durch die Frage nach der Synthesis gesellschaftlicher Ordnung setzt sie sich notwendig auch damit auseinander, was als Ordnung und was als Krise gelten soll.
Der Blick auf die Dynamis bzw. die Wandelbarkeit von Gesellschaft bedingt, dass Theorien dabei die Historizität und damit das ‚Verfallsdatum‘ ihrer eigenen Erkenntnisse in Rechnung stellen müssen.
Als Ausdruck des Nachdenkens über Gesellschaft in der Gesellschaft wird soziologische Theorie schließlich stets auch mit der Frage konfrontiert, welche Relevanz ihre eigenen Erkenntnisse für die soziale Praxis hat – die soziale Praxis des ‚Theoretisierens‘ eingeschlossen.
Konkret ergeben sich aus den genannten Fragen einige für die Gegenwartssoziologie einflussreiche Streitgegenstände und Ideenströmungen: Theorieansätze, die stärker die Freiheit und Bedeutung des individuellen Handelns betonen, werden zu den Handlungstheorien gerechnet; sie versuchen, das Entstehen gesellschaftlicher Institutionen aus den Folgen und Nebenfolgen der zusammentreffenden Handlungen sozialer Akteure zu erklären.
Struktur- und Systemtheorien gehen den umgekehrten Weg: Für sie folgt die gesellschaftliche Entwicklung eigenen Gesetzen; menschliche Handlungen und Neigungen werden dann aus den gesellschaftlichen Strukturbedingungen und Zwängen abgeleitet. Die meisten zeitgenössischen Ansätze gehen aber davon aus, dass die soziale Wirklichkeit aus der Wechselwirkung von Handlungen und Strukturen entsteht.
Was tun wir in Jena?
Ausgehend von den genannten Merkmalen allgemeiner und theoretischer Soziologie lassen sich drei Schwerpunkte unterscheiden, von denen auch die theoretische Soziologie in Jena bestimmt ist.
Als allgemeine und theoretische Soziologie beschäftigt sie sich 1) mit den grundlegenden Bedingungen des sozialen Handelns und der gesellschaftlichen Entwicklung.
‚Wie ist soziale Ordnung möglich?‘ lautet die Ausgangsfrage aller soziologischen Theorie. Weil diese Frage erst in der Moderne, die nicht mehr von der fraglosen Geltung einer vorgegebenen Ordnung ausgehen kann, zu einem relevanten Problem wird, entsteht auch die soziologische Theorie im engeren Sinne erst mit der Entfaltung der Moderne im späten 19. Jahrhundert. Sie reagiert also immer schon auf die Erfahrung von Modernisierungsprozessen, welche die Vorgängigkeit, Eigengesetzlichkeit und Widerständigkeit gesellschaftlicher Strukturen gegenüber allem individuellen und politischen Wollen sichtbar werden lassen.
Soziologische Theorie ist nach unserer Auffassung darum immer die Durchdringung gesellschaftlicher Gesamtformationen und die Analyse ihrer übergreifenden Veränderungen.
Für Studium und Lehre bedeutet ‚soziologische Theorie‘ daher 2) zunächst die Auseinandersetzung mit ‚klassischen‘ gesellschaftstheoretischen Entwürfen von Autoren wie Karl Marx, Emile Durkheim, Max Weber oder Georg Simmel, dann aber auch von neueren Autor_innen wie Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Michel Foucault und Judith Butler.
Die Interpretation von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Vergleich der soziologischen 'Zeitdiagnosen' verschiedener Autor_innen steht dabei für uns auch gegenwärtig im Zeichen der kritischen Identifikation von sozialen Fehlentwicklungen.
Soziologische Theorie schließt gerade deshalb 3) auch Empirie bzw. soziologische Forschung notwendig ein. Als forschende Theorie versucht sie beispielsweise Antworten auf die Frage zu geben, wie sich die Einstellungen und Neigungen der handelnden Akteure – die Kultur – in Abhängigkeit von sich verändernden Institutionen und gesellschaftlichen Strukturprozessen wie Rationalisierung, Differenzierung oder Beschleunigung entwickeln und umgekehrt, wie Institutionen und Strukturen durch das Akteurshandeln beeinflusst werden.
Auf diese Weise werden nicht nur Ursachen für Veränderungen – inklusive möglicher Krisenerscheinungen – bestimmt, sondern auch Horizonte praktischer Einflussnahme bzw. Handlungspotentiale und gesellschaftliche Transformationsmöglichkeiten aufgezeigt.
Am Arbeitsbereich für allgemeine und theoretische Soziologie werden Transformationsprozesse verschiedener gesellschaftlicher Praxisfelder fortlaufend erforscht (z. B. im Hinblick auf Naturverhältnisse, Geschlechterverhältnisse und Intimbeziehungen, Eigentumsverhältnisse, technologischen Entwicklungen, Beschleunigungsprozesse…). Die Ergebnisse werden gemeinsam mit Kolleg_innen und Studierenden diskutiert und in Theoriedebatten und Lehrveranstaltungen – u.a. in Form von daraus entstehenden Lehrbüchern – zurückgespielt. Zeitdiagnostisch zentralen Stellenwert nimmt hierbei die Annahme sich verändernder ‚Weltbeziehungen‘ in der Spätmoderne ein.