Ernestinisches Wappen im Innenhof des Collegium Jenense in Jena.

Zur Geschichte der Psychologie in Jena

Ernestinisches Wappen im Innenhof des Collegium Jenense in Jena.
Foto: Jan-Peter Kasper (Universität Jena)

Johannes Stigel

Foto: FSU Jena

Von der Psychologie in Jena kann das behauptet werden, was Ebbinghaus einmal über die Psychologie insgesamt sagte: Sie "hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte". Bereits die ersten Jenaer Universitätsprofessoren Johannes Stigel (1515-1562) und Victorius Strigel (1524-1569) behandelten in ihren Lehrveranstaltungen psychologische Fragestellungen im Geiste Melanchthons.

Ab 1728 hielt Gottlieb Stolle (1673-1744), ein Professor für Politik, Vorlesungen, die mit dem Anspruch auftraten, sich psychologischer Probleme zu widmen. Dem Geiste der Frühaufklärung verpflichtet, ging es Stolle darum, seinen Hörern Wissen und Fertigkeiten in Bezug auf Menschenkenntnis und Menschenbeurteilung auf der Basis der zeitgenössischen Erfahrungsseelenkunde und Vermögenspsychologie zu vermitteln.

Im 19. Jahrhundert, in dem Jena zu einem Zentrum des klassischen deutschen Idealismus avancierte, wurde psychologisches Denken in erster Linie durch philosophische Systeme bestimmt. Während Jacob Friedrich Fries (1773-1843) versuchte, das philosophische System Kants auf eine "allgemeine psychologische Grundlage" - wie er es nannte - zu stellen, war Carl Fortlage (1806-1881) bestrebt, philosophisch an Fichte anknüpfend, ein "System der Psychologie (...) aus der Beobachtung des inneren Sinns" zu errichten.

Otto Binswanger

Foto: FSU Jena

Anregungen, die Psychologie als empirische Wissenschaft mit naturwissenschaftlichem Profil zu betreiben, wurden in Jena vor allem von Vertretern der Medizinischen Fakultät aufgegriffen. Der Physiologe William Thierry Preyer (1841-1897), sowohl von der Psychophysik Fechners als auch von der Evolutionstheorie Darwins inspiriert, wurde mit seiner auf methodisch sorgfältigen Beobachtungen beruhenden Monographie "Die Seele des Kindes" (1882) zum Inaugurator einer wissenschaftlichen Kinderpsychologie in Deutschland. Der Psychiater Otto Binswanger (1852-1929) führte experimentelle Untersuchungen über Hypnose durch und wies auf die Relevanz psychosomatischer Zusammenhänge in der praktischen ärztlichen Tätigkeit hin. Theodor Ziehen (1862-1950), ebenfalls Psychiater, von 1887-1900 in Jena, bildet zusammen mit H. Ebbinghaus und G. E. Müller das klassische Trio der sensualistischen Assoziationspsychologen in Deutschland und schuf mit seinem "Leitfaden der Physiologischen Psychologie" (1891) einen kritischen Gegenentwurf zu Wundts gleichnamiger Konzeption.

Hans Berger

Foto: FSU Jena

Ebenfalls von Haus aus kein Psychologe, aber für die Psychologie bedeutsam war der Nachfolger Binswangers als Klinikdirektor, Hans Berger (1873-1941), dem es erstmalig 1924 gelang, elektrische Potenzialschwankungen im menschlichen Gehirn festzustellen, graphisch darzustellen und 1929 nach sorgfältiger Sicherung seiner Ergebnisse mit der Publikation über das "Elektrenkephalogramm", heute als Elektroenzephalogramm (EEG) bekannt, eine in ihrer Bedeutung bis in die Gegenwart hineinreichende wissenschaftliche Leistung zu erzielen.

Wilhelm Peters

Foto: FSU Jena

Initiativen zur Gründung einer eigenständigen psychologischen Ausbildungs- und Forschungsstätte gab es erst Anfang der 20er Jahre. Sie gingen vom Thüringer Lehrerbund, von der Firma Carl Zeiss und von der Gesellschaft für experimentelle Psychologie aus. 1923 wurde schließlich die "Psychologische Anstalt" gegründet. Zu ihrem Direktor wurde gegen den Widerstand der Philosophischen Fakultät der Wundt-Schüler Wilhelm Peters (1880-1963) berufen. Mit seinen Arbeiten auf dem Gebiet der Pädagogischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie, insbesondere zum Anlage-Umwelt-Problem, trugen er und seine Mitarbeiter schon bald zum wissenschaftlichen Ansehen des Instituts bei. Nach der Machtergreifung durch die Faschisten 1933 wurde er als Universitätsprofessor seiner jüdischen Abstammung wegen entlassen. Die Leitung des Instituts übernahm Friedrich Sander (1880-1971), ebenfalls Schüler von Wilhelm Wundt, ein Vertreter der Ganzheitspsychologie, der den Erwartungen, die die Nationalsozialisten an einen deutschen Hochschullehrer richteten, voll entsprach. Das Institutsgebäude wurde 1945 durch Luftangriffe zerstört.

Nach Wiedereröffnung der Jenaer Universität im Oktober 1945 hatte aufgrund erheblicher personeller und ausstattungsmäßiger Defizite die Psychologie lediglich den Bedürfnissen der Lehrerausbildung Rechnung zu tragen. Das Institut für Psychologie, das zwischenzeitlich seine Selbständigkeit verlor, wurde erst 1960 unter Friedhart Klix (geb. 1927) wieder gegründet und der Diplomstudiengang Psychologie 1961 eingerichtet. Mit der Berufung von Hans Hiebsch (1922-1990) wurde das Institut zum Zentrum der Sozialpsychologie in der DDR ausgebaut. Hiebsch versuchte, eine Konzeption von Sozialpsychologie zu entwickeln, die ihre theoretisch-philosophischen Grundlagen im dialektischen und historischen Materialismus hat und die zugleich in die internationalen Entwicklungen des Faches integriert ist.

Nach der "Wende" (1989/90) begann ein nachhaltiger Prozess der Umstrukturierung und des Neuaufbaus. Das Ziel war, die Psychologie in ihrer gesamten Breite in Lehre, Forschung und Anwendung zu etablieren. Besonders geachtet wurde auf die Einbindung in internationale Kooperationen. Das in Jena vertretene Konzept der Psychologie ist "biopsychosozial", wobei die Interdisziplinarität vor allem durch biologische und sozialwissenschaftliche Orientierungen charakterisiert ist. Seit Jahren laufen umfangreiche Forschungsprojekte, beispielsweise zu neuro- und kognitionswissenschaftlichen Grundlagen des Verhaltens, zu Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und deren Folgen für die Beteiligten, zur Entwicklung der Persönlichkeit über die Lebensspanne, sowie zu wichtigen Anwendungsfeldern der Psychologie in Bereichen wie Gesundheit und Arbeit.

1999 wurde ein europäisches Graduiertenkolleg "Konflikt und Kooperation zwischen sozialen Gruppen" mit den Universitäten Kent (GB) und Leuven (B) eingerichtet. Von 2002 bis 2010 bestand die DFG-Forschergruppe "Discrimination and Tolerance in Intergroup Relations", 2009 wurde die DFG-Forschergruppe "Person Perception" eingerichtet.