Gruppenbild Musikprojekt

Individualisierte Musik für Menschen mit Demenz

Gruppenbild Musikprojekt
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Wissenschaftlicher Hintergrund

Eine randomisierte-kontrollierte Studie

Laufzeit: 1/2018 - 12/2020

Vor dem Hintergrund steigender Prävalenzraten von Demenzerkrankungen stellt sich die Frage, wie die Lebens- und Pflegequalität von Menschen mit Demenz sichergestellt und verbessert werden kann. Individualisierte Musik kann in diesem Zusammenhang als eine vielversprechende, nicht-pharmakologische Intervention angesehen werden. Im Gegensatz zu aktiven Formen, wie Singen, aktives instrumentales Musizieren oder musiktherapeutische Bewegungsübungen, ist bei der passiven Form des Musikhörens keine besondere Qualifikation und zusätzliche professionelle Anleitung oder Betreuung notwendig. Eine spezifische Form der passiven Interventionen ist das Hören von individualisierter und damit persönlich relevanter Musik.

In den letzten zwei Jahrzehnten entstand ein zunehmendes Forschungsinteresse bezüglich der Effekte von Musikinterventionen für Menschen mit Demenz.

Gerdner (1992, 1997) wies als erste auf die positiven Effekte individualisierter Musik für Menschen mit Demenz hin. In ihrer mid-range-theory of individualized music intervention for agitation postuliert sie, dass kognitive Einschränkungen durch die Demenz zu einer geringeren Stresstoleranz führen. Dies löst wiederum agitierte Verhaltensweisen (z.B. unruhiges Umherlaufen) aus. Das Hören von individualisierter Musik soll stressauslösende Reize überlagern und positive Gefühle auslösen, wodurch verhaltensbezogene Symptome reduziert werden können. In darauffolgenden Studien konnte sie die Reduktion von Agitation während und 30 Minuten nach einer individualisierten Musikintervention im Vergleich zum Hören klassischer Entspannungsmusik zeigen (Gerdner, 2000).

Auch in der neurowissenschaftlichen Forschung wird ein möglicher therapeutischer Nutzen individualisierter Musik bei Menschen mit Demenz diskutiert. Jacobsen et al. (2015) identifizierten spezifische Hirnregionen, die als zentral für Funktionen des Langzeitgedächtnisses in Bezug auf Musikerinnerung gelten. Es stellte sich heraus, dass die lokalisierte Hirnregion besonders wenig durch die Demenzerkrankung betroffen ist. Persönlich relevante Musik, besonders aus der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter, kann daher gut erinnert werden und den Abruf autobiografischer Erinnerungen erleichtern. Darüber hinaus kann individualisierte Musik eine komplexe Interaktion verschiedener Hirnregionen auslösen, die zu kognitiver Stimulation und dem Erleben von positiven Emotionen beitragen (Särkämö et al., 2012).

Einzelne empirische Studien zeigen bereits erste vielversprechende Effekte von individualisierter Musik für Menschen mit Demenz. So konnten beispielsweise Hinweise darauf gefunden werden, dass das Hören von persönlich bedeutsamer Musik bei Menschen mit Demenz positive Emotionen, Erinnerungen und soziale Interaktionen fördern, sowie Stress, Unruhe und Angst reduzieren kann (Brotons & Koger, 2000; Clark, Lipe & Bilbrey, 1998; Gerdner, 1997; McDermott, Orell & Ridder, 2014; Schall, Haberstroh & Pantel, 2015; Spintge, 2000; Sung, Chang & Abbey, 2006; Sung, Chang & Lee, 2010). Trotz der vielversprechenden Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeiten, ist die Anzahl an empirisch-kontrollierten Untersuchungen zur Effektivität von individualisierter Musik bei Menschen mit Demenz begrenzt.

Einschränkend weisen zudem mehrere Reviews und Metaanalysen (Chang et al., 2015; Fusar-Poli, Bieleninik, Brondino, Chen & Gold, 2017; Gómez-Romero, 2017; Van der Steen, 2017; Vink, Bruinsma & Scholten, 2003; Zhang et al., 2017) auf die Inkonsistenz der Befunde und besonders auf die mangelnde methodische Qualität der bisherigen Studien hin (bspw. nur wenige randomisiert-kontrollierte Studien, geringe Stichprobengrößen).

Die Inkonsistenz der Befunde könnte ebenfalls in der Heterogenität der Intervention, der unterschiedlichen Dauer des Musikhörens und fehlender Genauigkeit der Implementierung der Intervention bisheriger Forschung begründet sein. Die Ergebnisse sind somit nur eingeschränkt interpretierbar. Zudem wurde auch der Implementierungserfolg solcher Interventionen bislang unzureichend evaluiert.

Aufgrund dieser methodischen Limitationen der meisten Untersuchungen in diesem Forschungsgebiet besteht ein dringender Bedarf an qualitativ hochwertigen Forschungsarbeiten zur Untersuchung der Effektivität von individualisierter Musik bei Menschen mit Demenz.

  • Individualisierte Musik

    Unter individualisierter Musik werden Musikstücke verstanden, die persönlich bedeutsam sind, wichtiger Bestandteil der Biographie und des Lebens der Person vor ihrer Erkrankung waren und mit positiven Erfahrungen und Gefühlen verbunden sind. Die Lieblingsmusik wird dabei als Playlist auf einem Mp3-Player zusammengestellt und über Kopfhörer gehört.

  • Pilotstudie

    Von Mai bis September 2016 führten wir in Kooperation mit dem Sophienhaus Weimar eine Pilotstudie durch und konnten bereits erste Erfahrungen in der Durchführung einer individualisierten Musikintervention für Menschen mit Demenz im institutionellen Pflegesetting sammeln. 20 Bewohner mit einer Demenzerkrankung wurden in die randomisiert-kontrollierte Studie eingeschlossen (Alter: M=85 Jahre, 80% weiblich, unterschiedliche Demenzschweregrade: 10% leichte Demenz, 70% mittschwere Demenz, 20% schwere Demenz). Die Teilnehmer erhielten über einen Zeitraum von 4 Wochen (jeweils nachmittags für 30 Minuten, 2 Mal pro Woche) die individualisierte Musik.

    Die Musikintervention konnte erfolgreich im institutionellen Pflegesetting umgesetzt werden. Bei jedem Studienteilnehmer wurden einmal pro Woche Verhaltensbeobachtungen unmittelbar vor, während und nach dem Musikhören vom Projektteam und MitarbeiterInnen des Sophienhauses durchgeführt, wobei eine exzellente Beobachterübereinstimmung erzielt werden konnte. Die Ergebnisse der Verhaltensbeobachtung zeigten, dass die Teilnehmer direkt nach dem Musikhören im Vergleich zu vorher signifikant mehr Freude, weniger Anspannung und Traurigkeit sowie marginal signifikant mehr Entspannung aufwiesen. Zu den häufigsten beobachteten Reaktionen zählten Wachheit, Ausdruck von Freude z.B. durch Lächeln, Entspannung und direkte positive Reaktionen auf das Musikhören, die sich beispielsweise in einer freudvollen Aktivierung wie Bewegungen, Tanzen, Summen, Mitsingen oder sprachlichen Mitteilungen über die Freude des Musikhörens zeigten.

    Nach der Musikintervention im Vergleich zu vorher zeigten die Teilnehmer der Interventionsgruppe verglichen mit den Teilnehmern der Kontrollgruppe eine signifikant höhere Schlafqualität, eine marginal signifikante Verbesserung der sozialen Beteiligung sowie eine marginal signifikante Reduktion von Agitiertheit, jeweils eingeschätzt durch das Pflegepersonal.

  • Ziel der aktuellen Studie

    Das Ziel der aktuellen Studie ist die Untersuchung der Wirksamkeit, Anwendbarkeit und Akzeptanz der individualisierten Musikintervention für Menschen mit Demenz im institutionellen Pflegesetting. Es soll eine Verbesserung der Lebensqualität, des Wohlbefindens, der sozialen Partizipation sowie eine Verringerung von Problemverhalten von Menschen mit Demenz in institutioneller Pflege durch das regelmäßige Hören von individualisierter Musik erreicht werden.

  • Durchführung

    Die Durchführung der Musikintervention findet nacheinander in vier bis fünf ausgewählten Pflegeheimen in Thüringen statt. Zu diesen Pflegeheimen zählen folgende Einrichtungen:

    1. Seniorenpflegeheim Sophienhaus in Weimar
    2. Seniorenzentrum Andreashof in Erfurt
    3. Pflegeheim Friedrich-Zimmer-Haus in Weimar
    4. Seniorenpflegeheim Martin-Luther-Haus in Erfurt

    Es handelt sich um eine randomisierte-kontrollierte Studie mit einer Interventions- und Kontrollgruppe in einem Prä-Post-Follow-up-Design.

    Interventionsgruppe:

    • hört über einen Zeitraum von 6 Wochen jeden zweiten Tag (3-4 Mal/Woche) jeweils 20 Minuten individuelle Musikplaylisten mithilfe eines Mp3-Players über Kopfhörer
    • erhält weiterhin Standardpflege
    • jede zweite Woche wird für jeweils 60 Minuten eine Verhaltensbeobachtung durchgeführt

    Kontrollgruppe:

    • erhält die Standardpflege
    • jede zweite Woche wird über den 6-wöchigen Interventionszeitraum für jeweils 60 Minuten eine Verhaltensbeobachtung durchgeführt

    Sechs Wochen vor Interventionsbeginn (T0) wird bei den Teilnehmenden in den Pflegeheimen eine Demenzdiagnostik durchgeführt, um den Schweregrad der Demenzerkrankung zu bestimmen. Zu diesem Zeitpunkt werden ebenfalls die ersten Fremdeinschätzungen durch das Pflegepersonal erhoben. Es werden u.a. Fragebögen zum Wohlbefinden, zur sozialen Beteiligung und zum Problemverhalten verwendet. Zwischen dieser Erst-Befragung (T0) und dem Interventionsbeginn (T1) findet die randomisierte Zuteilung der teilnehmenden Menschen mit Demenz in die Interventions- und die Kontrollgruppe statt. Für die Interventionsgruppe wird daraufhin gemeinsam mit den Menschen mit Demenz (falls möglich), ihren Angehörigen und den MitarbeiterInnen der Pflegeheime eine individuelle Playlist der präferierten Musik erstellt. Die Dauer der Musikintervention zwischen den Zeitpunkten T1 und T2 ist auf 6 Wochen festgelegt. In dieser Zeit finden sowohl für die Interventions- als auch die Kontrollgruppe jede zweite Woche Verhaltensbeobachtungen durch ProjektmitarbeiterInnen statt. Weitere Befragungen des Pflegepersonals zur Evaluation der Musikintervention finden vor Beginn der Intervention (T1), nach Ende der Intervention (T2) und als Follow-up Messung 6 Wochen nach Interventionsabschluss (T3) statt. Zu dem Messzeitpunkt T3 werden zusätzlich Einschätzungen des Pflegepersonals hinsichtlich der Anwendbarkeit, Akzeptanz und Wirksamkeit der Musikintervention erhoben.

    Studienübersicht
    Studienübersicht
  • Musikintervention

    Die Interventionsgruppe hört über einen Zeitraum von 6 Wochen regelmäßig, d.h. jeden zweiten Tag, jeweils 20 Minuten ihre persönlich bedeutsame, präferierte Musik mithilfe eines Mp3-Players über Kopfhörer. Die Musikintervention soll nach Möglichkeit regelmäßig zu einer bestimmten Tageszeit erfolgen, um eine ritualisierte Anwendung zu fördern. Begleitet werden die Menschen mit Demenz während der Musikintervention von MitarbeiterInnen der jeweiligen Pflegeeinrichtung (Pflegepersonal, sozialer Dienst, Ehrenamtliche) sowie von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen oder studentischen/wissenschaftlichen Hilfskräften des Projektteams.

  • Verhaltensbeobachtung

    Während des sechswöchigen Interventionszeitraums werden bei allen Teilnehmern der Interventions- und Kontrollgruppe jede zweite Woche für jeweils 60 Minuten Verhaltensbeobachtungen von MitarbeiterInnen des Projektteams durchgeführt (insgesamt 3 Mal pro Person). Bei den Teilnehmenden der Interventionsgruppe findet diese direkt vor, während und nach der Musikintervention statt. Zielgrößen der Verhaltensbeobachtung sind emotionale und motorische Veränderungen sowie Aktivierung hinsichtlich sozialer Teilhabe. Zudem wird das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten sowie etwaigen negativen Reaktionen erfasst.

  • Stichprobe

    Insgesamt werden etwa 130 Menschen mit Demenz mit unterschiedlichen Schweregraden aus institutionellen Pflegeheimen in Thüringen in die Studie eingeschlossen. Bei allen Teilnehmenden wird 6 Wochen vor Beginn der Intervention mithilfe des Mini-Mental Status Tests einmalig der Schweregrad der Demenz bestimmt.

  • Innovation und Nachhaltigkeit der Maßnahme

    Die randomisiert-kontrollierte Studie kann durch die angestrebte umfangreiche Stichprobe, welche in dieser Form in Deutschland bislang einmalig ist, Erkenntnisse über die Anwendbarkeit, Wirksamkeit und Akzeptanz von individualisierter Musik für Menschen mit Demenz in der institutionellen Pflege mit hoher methodischer Qualität liefern und damit einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag in diesem Forschungsgebiet leisten. Die Ergebnisse dieser Studie liefern darüber hinaus bedeutsame praxisrelevante Erkenntnisse. So könnte die Musikintervention bei positiver Evaluation als eine innovative, kostengünstige Alternative zur pharmakologischen Behandlung genutzt werden und das Wohlbefinden sowie die Lebensqualität von Menschen mit Demenz in institutionellen Pflegeeinrichtungen verbessern. Perspektivisch könnte die Musikintervention in Seniorenpflegeheimen bundesweit sowie auch in anderen Settingbedingungen wie der häuslichen Pflege eingesetzt werden.

  • Quellen

    Brotons, M. & Koger, S. M. (2000). The impact of music therapy on language functioning in dementia. J Music Ther, 37 (3), 183–95.

    Chang, Y.-S., Chu, H., Yang, C.-Y, Tsai, J.-C., Chung, M.-H., Liao, Y.-M., Chi, M.-J., Liu et al. (2015). The efficacy of music therapy for people with dementia: A metaanalysis of randomised controlled trials. Journal of Clinical Nursing, 24(23-24), 3425-3440. doi:10.1111/jocn.12976

    Clark, M., Lipe, A. & Bilbrey, M. (1998). Use of music to decrease aggressive behaviors in people with dementia. Journal of Gerontological Nursing, 24(7), 1017.

    Fusar-Poli, L., Bieleninik, Ł., Brondino, N., Chen, X.-J., & Gold, C. (2017). The effect of music therapy on cognitive functions in patients with dementia: a systematic review and meta-analysis. Aging & mental health, 1-10.

    Gerdner, L.A. (1992). The effects of individualized music on elderly patients who are confused and agitated. Masters thesis, The University of Iowa, Iowa city, IA.

    Gerdner, L.A. (1997). An individualized music intervention for agitation. Journal of the American Psychiatric Nurses Association, 3 (6), 177-184.

    Gerdner, L.A. (2000). Effects of individualized versus classical "relaxation" music on the frequency of agitation in elderly persons with alzheimer's disease and related disorders. International Psychogeriatrics, 12 (1), 49-65.

    Gómez-Romero, M., Jiménez-Palomares, M., Rodríguez-Mansilla, J., Flores-Nieto, A., Garrido-Ardila, E. M., & González-López-Arza, M. V. (2017). Benefits of music therapy on behaviour disorders in subjects diagnosed with dementia: A systematic review. Neurología (English Edition), 32(4), 253-263. doi: https://doi.org/10.1016/j.nrleng.2014.11.003

    Jacobsen, J.-H., Stelzer, J., Fritz, T.H., Chételat, G., La Joie, R., & Turner, R. (2015). Why musical memory can be preserved in advanced alzheimers disease. Brain, 138, 2438-2450. doi: 10.1093/brain/awv135

    McDermott, O., Orrell, M., & Ridder, H. M. (2014). The importance of music for people with dementia: the perspectives of people with dementia, family carers, staff and music therapists. Aging Ment Health, 18 (6).70616. doi:10.1080/13607863.2013.875124.

    Särkämö, T., Laitinen, S., Tervaniemi, M., Nummien, A., Kurki, M. & Rantanen, P. (2012). Music, emotion and dementia: Insight from neuroscientific and clinical research. Music and Medicine, 4, 153-162.

    Spintge, R. (2000). Music in anesthesia and pain management [Musik in Anästhesie und Schmertztherapie]. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther, 35. 25461.

    Sung, H.C., Chang, A.M., & Abbey, J. (2006). The effects of preferred music on agitation of older people with dementia in Taiwan. International Journal of Geriatric Psychiatry, 21(10), 999-1000. doi: doi:10.1002/gps.1585

    Sung, H.C., Chang, A.M., & Lee, W.L . (2010). A preferred music listening intervention to reduce anxiety in older adults with dementia in nursing homes. Journal of Clinical Nursing, 19(78), 1056-1064. doi: doi:10.1111/j.1365-2702.2009.03016.x

    van der Steen, J. T., van Soest-Poortvliet, M. C., van der Wouden, J. C., & Bruinsma, M. S., Scholten, R.J.P.M. & Vink, A.C. (2017). Music-based therapeutic interventions for people with dementia. Cochrane database of systematic reviews(5). doi: 10.1002/14651858.CD003477.pub3

    Vink, A. C., Birks, J. S., Bruinsma, M. S., & Scholten, R. J. S. (2004). Music therapy for people with dementia. Cochrane database of systematic reviews(3). doi: 10.1002/14651858.CD003477.pub2

    Zhang, Y., Cai, J., An, L., Hui, F., Ren, T., Ma, H., & Zhao, Q. (2017). Does music therapy enhance behavioral and cognitive function in elderly dementia patients? A systematic review and meta-analysis. Ageing Research Reviews, 35(Supplement C), 1-11. doi: https://doi.org/10.1016/j.arr.2016.12.003