Illustration von menschlichen Sillouetten mit verschiedenfarbigen Gehirnen

Autismus – Gut zu wissen!

Im Autismus-Spektrum gibt es qualitative Beeinträchtigungen der sozialen und kommunikativen Entwicklung sowie eingeschränkte Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten. Gründe können Neurobiologie und Genetik sein.
Illustration von menschlichen Sillouetten mit verschiedenfarbigen Gehirnen
Foto: MissLunaRose12 (Lizenziert unter Creative Commons 4.0)

Nach den aktuellen Klassifikationssystemen ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich im Verhalten durch qualitative Beeinträchtigungen der sozialen und kommunikativen Entwicklung sowie durch eingeschränkte Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten definiert (DSM-5, American Psychiatric Association, 2013; ICD-11, vgl. Freitag, 2011). Es wird derzeit angenommen, dass Autismus eine neurobiologische Grundlage und eine starke genetische Komponente hat.

Warum sind Autismus-Störungen auf einem “Spektrum”?

Autismus wird als Spektrum beschrieben, weil AutistInnen untereinander sehr verschieden sind. Es reicht von Personen mit weniger autistischen Merkmalen in ihrem Verhalten und Erleben bis hin zu schwerer betroffenen Personen. Aber auch die Schwerpunkte der autistischen Symptome, ihre Schwierigkeiten und Stärken, sind sehr verschieden. Einige haben besonders sensorische Schwierigkeiten, andere benötigen besonders Routinen. Kein Autismus ist so wie der andere Autismus. Wichtig ist auch, dass es im Autismus-Spektrum eine große Bandbreite an intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten gibt. Sie sollen deswegen auch bei der Diagnose nach ICD-11 berücksichtigt werden. Manche Menschen mit Autismus funktionieren in vielen Lebensbereichen durch außergewöhnliche Anstrengungen gut, sodass ihre Schwierigkeiten für andere möglicherweise nicht offensichtlich sind. Die Symptome führen jedoch in der Regel zu erheblichen Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen, wie der persönlichen, schulischen oder beruflichen Entwicklung. (Happé & Frith, 2020)

Ab wann kann Autismus diagnostiziert werden?

Die Symptome müssen in frühen Entwicklungsstadien beginnen, treten aber oft erst dann in Erscheinung, wenn die Anforderungen der Umwelt die kompensatorischen Fähigkeiten der betroffenen Person übersteigen. Autismus kann von qualifizierten klinischen Fachkräften bereits bei Kindern im Alter von 18 Monaten festgestellt werden, und eine zuverlässige Diagnose kann mit etwa 30 Monaten gestellt werden (Gillberg et al., 1996). Frühe Anzeichen der Störung, wie etwa ein verminderter Blickkontakt, können bereits im ersten Lebensjahr auftreten (Jones & Klin, 2013). In den letzten Jahren wurde die Bedeutung der Frühdiagnose und -intervention durch die Verfügbarkeit von Frühdiagnoseinstrumenten wie dem M-Chat (Modifizierte Checkliste für Autismus bei Kleinkindern, engl. Modified Checklist for Autism in Toddlers) oder der CARS (Autismus-Bewertungsskala für Kinder, engl. Childhood Autism Rating Scale) sowie durch Checklisten für Eltern, die von Autismus-Organisationen (z. B. Autismus e.V.) angeboten werden, hervorgehoben.

Welche Kriterien müssen für die Diagnose erfüllt sein?

Für eine Autismus-Diagnose müssen Besonderheiten in den drei Symptombereichen Kommunikation, Soziale Interaktion sowie Repetitiv-Stereotype Verhaltensweisen vorhanden sein. In den Bereichen der Kommunikation und sozialen Interaktion zeigen sich die Besonderheiten oft in Form einer verminderten sozial-emotionalen Reziprozität.Zum Beispiel gibt es nicht notwendigerweise eine normal geregelte Hin-und-her-Konversation; Emotionen oder Affekte können anders gezeigt oder auf andere Weise mitgeteilt werden; die Einleitung oder Reaktion auf soziale Interaktionen kann fehlschlagen.

In der Kommunikation liegt der Schwerpunkt mehr auf der Unmittelbarkeit und weniger auf den durch Redewendungen vermittelten Inhalten. Es kann auch weniger Anzeichen für nonverbale Kommunikation geben (z. B. weniger oder kein Augenkontakt und keine Körpersprache oder Einschränkungen beim Verstehen und Verwenden von Gestik und Mimik). Darüber hinaus können Menschen mit ASS Schwierigkeiten haben, Beziehungen zu entwickeln, aufrechtzuerhalten und zu verstehen (z. B. wenn es darum geht, an Fantasiespielen teilzunehmen oder das Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen). Darüber hinaus kann es Schwierigkeiten geben, Freunde zu finden und zu halten, oder es besteht ein scheinbar allgemeines Desinteresse an Gleichaltrigen.

Welche Verhaltensmuster können auftreten?

Der letzte Symptombereich der eingeschränkten Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten wird charakterisiert durch sich wiederholende Bewegungen, der Gebrauch von Gegenständen oder Sprache (z. B. den Oberkörper nach vorne und hinten Wiegen; Aufreihen von Spielzeug oder Umdrehen von Gegenständen; Echolalie; idiosynkratische Phrasen wie “heißer Regen” anstatt “Dampf”). Darüber hinaus kann der Wunsch nach oder das Beharren auf Wiederholung, Gleichartigkeit oder ritualisierten Verhaltensmustern bestehen (z. B. das Bedürfnis, jeden Tag denselben Weg zu gehen oder dasselbe Essen zu sich zu nehmen), zusammen mit stark eingeschränkten, fixierten Interessen, die in ihrer Intensität und Ausrichtung ungewöhnlich sind (z. B. starke Bindung an ungewöhnliche Gegenstände; übermäßig eingeschränkte Interessen). In einigen Fällen erwerben die Betroffenen dabei außergewöhnliche Kenntnisse oder Fähigkeiten. Es kann auch zu einer Hyper- oder Hyporeaktivität gegenüber sensorischen Reizen kommen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen/Temperaturen; negative Reaktion auf bestimmte Geräusche und Texturen) und zu ungewöhnlichen Interessen an sensorischen Aspekten der Umwelt (z. B. übermäßiges Riechen oder Berühren von Gegenständen; visuelle Faszination für Lichter oder Bewegungen).

Neurodiversität

Es ist wichtig anzumerken, dass die lange Zeit vertretene Annahme, dass Verhaltensmerkmale des Autismus auf einen Mangel an sozialem Interesse oder sozialer Motivation hinweisen, keine konsistente empirische Unterstützung erhält und – zumindest in ihrer allgemeinen Form – aufgegeben werden sollte (Jaswal & Akhtar, 2019). Anstatt sich auf eine störungsbasierte Perspektive zu konzentrieren, die autistisches Verhalten aufgrund seiner Abweichung von einer Norm als negativ interpretiert, sehen wir derzeit einen Paradigmenwechsel in der Autismusforschung und fördern diesen aktiv, um die Mängel des traditionellen defizitären Modells besser anzugehen. Insbesondere gibt es ein zunehmendes Maß an Forschung, die sich auf die Neurodiversität im Kontext einer Perspektive der individuellen Unterschiede (Pellicano & den Houting, 2022) und auf Probleme konzentriert, die sich aus den häufigen Fehlwahrnehmungen des Sozialverhaltens von AutistInnen durch neurotypische Menschen ergeben (Mitchell et al., 2021). Insgesamt unterstützen diese Überlegungen den Fokus auf Reziprozität und gegenseitige soziale Interaktionen, den wir in der Forschungsgruppe „Soziale Potenziale bei Autismus“ verfolgen.

  • Quellen
    • American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). Washington, DC: Author.
    • Freitag, C. M. (2021). From pervasive developmental disorder in ICD-10 to Autism Spectrum Disorder in ICD-11. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 49(6), 437-441. doi:10.1024/1422-4917/a000774Externer Link
    • Gillberg, C, Nordin, V, & Ehlers, S. (1996). Early detection of autism. Diagnostic instruments for clinicians. European Child & Adolescent Psychiatry, 5, 67-74.
    • Jaswal, V. K., & Akhtar, N. (2019). Being vs. Appearing Socially Uninterested: Challenging Assumptions about Social Motivation in Autism. The Behavioral and Brain Sciences, 42, 1-73. doi:10.1017/s0140525x18001826Externer Link
    • Jones, W., & Klin, A. (2013). Attention to eyes is present but in decline in 2-6-month-old infants later diagnosed with autism. Nature, 504, 427-433.
    • Mitchell, P., Sheppard, E., & Cassidy, S. (2021). Autism and the double empathy problem: Implications for development and mental health. British Journal of Developmental Psychology, 39(1), 1-18. doi:10.1111/bjdp.12350Externer Link
    • Pellicano, E., & den Houting, J. (2022). Annual Research Review: Shifting from ‘normal science’ to neurodiversity in autism science. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 63(4), 381-396. doi:10.1111/jcpp.13534Externer Link